Anthem im Test: Unausgegoren. Unkreativ. Unterhaltsam?
Mit Anthem verlassen die Rollenspiel-Spezialisten von Bioware endgültig ihr vertrauetes Terrain und machen sich auf zu neuen Genre-Ufern. Wir haben den Loot-Shooter in den vergangenen Wochen ausgiebig gespielt und klären nun im umfangreichen Test: Bringt der Titel frischen Wind in die Segel des kanadischen Studios oder droht eher ein Schiffbruch mit Ansage?
"Das Bioware wie wir es kennen, gibt es nicht mehr", so lautete die ernüchternde Erkenntnis des Kollegen Lukas Schmid, nachdem er sich im Januar mehrere Stunden deren neuestes Werk Anthem (jetzt kaufen 21,01 € ) zu Gemüte führen durfte. Gerade für langjährige Fans der berühmten Rollenspielschmiede klang das nach einer waschechten Hiobsbotschaft. Der kanadische Entwickler, der sich einst mit Titeln wie Mass Effect oder Dragon Age: Origins einen Namen machte, hat sich nun wohl endgültig von seinen Wurzeln abgewandt. Auf der hauseigenen Website schmückt sich das Studio zwar noch mit dem wunderschönen Werbespruch "reichhaltige Geschichten, unvergessliche Charaktere, und weitläufige Welten", der neueste Titel spricht da allerdings eine ganz andere Sprache.
In diesem Artikel
- Seite 1 Anthem im Test: Unausgegoren. Unkreativ. Unterhaltsam?
- 1.1Anthem im Test: Ein vielversprechender Beginn
- 1.2Anthem im Test: Tolle Charaktere füllen erzählerische Leere
- 1.3Anthem im Test: Ein Land zwischen gestern und morgen
- 1.4Anthem im Test: Die Illusion von spielerischem Tiefgang
- 1.5Anthem im Test: Schöne Spielwelt, schlecht genutzt
- 1.6Anthem im Test: Ladezeiten und Orientierungsprobleme
- 1.7Anthem im Test: Fliegen wie Iron Man
- Seite 2 Anthem im Test: Zu viele Fehler für zu wenig Inhalt
- Seite 3 Bildergalerie zu "Anthem im Test: Unausgegoren. Unkreativ. Unterhaltsam?"
Vorbei sind die Tage der verzweigten Dialogbäume, der komplexen Kampfsysteme und weitläufigen Einzelspieler-Geschichte. Anthem stellt einen rabiaten Schnitt dar. Nur Loot und Erfahrungspunkte erinnern hier noch an das Bioware von früher. Statt altbekannter RPG-Kost bekommen die Spieler nun aufwendig inszenierte Action-Feuerwerke, effektgeladene Ballereien und Koop-Gameplay im Shared-World-Multiplayer. Nur stellt sich die Frage: Ist das wirklich so schrecklich? Oder könnte Anthem vielleicht sogar ein gutes Spiel sein, wenn man die Vita des Entwicklers einmal außen vorlässt? Nun: ja und nein. Aber der Reihe nach.
Anthem im Test: Ein vielversprechender Beginn
Wenn Bioware für ein Spiel verantwortlich zeichnet, lohnt es sich natürlich, erst einmal einen Blick auf die Geschichte zu werfen. Denn ja, auch wenn es sich bei Anthem um einen Online-Multiplayer-Titel handelt, so erwartet euch dort nichtsdestotrotz eine knapp 20-stündige Story, die sogar Einzelspielern einiges an Unterhaltung bieten soll - angeblich. Tatsächlich fiel es uns stellenweise schwer, der Erzählung um die namensgebende Hymne der Schöpfung (englisch: Anthem of Creation) und deren Hüter, die Freelancer, zu folgen. Wodurch sich der Spielspaß doch eher in Grenzen hielt.
Quelle: PC Games
Das ist wirklich bedauerlich, zumal Anthem ja durchaus verheißungsvoll beginnt. Ihr werdet mit einer der vielen gut inszenierten Cutscenes in die Spielwelt Bastion eingeführt. In der Folge durchlauft ihr ein ansprechendes Tutorial-Level, das euch mit Lore, Charakteren und der Steuerung vertraut macht. Zudem dürft ihr euch für einen wahlweise männlichen oder weiblichen Helden entscheiden und dessen Aussehen mithilfe von etwa 20 vorgefertigten Gesichtern individuell anpassen. So weit, so gut.
Anthem im Test: Tolle Charaktere füllen erzählerische Leere
Quelle: PC Games Doch schon nach dem uninspirierten Zeitsprung, der euch nach gerade einmal knapp 40 Minuten Spielzeit plötzlich zwei Jahre in die Zukunft versetzt, wird es dann schon etwas konfus. Euer Charakter sowie die gesamte Gilde der Freelancer sind nämlich scheinbar in Ungnade gefallen. Warum genau, wird nie endgültig aufgeklärt. Stattdessen bekommt ihr teils wahllos Story-Schnipsel um die Ohren geschmissen, die euren Kopf schnell ins Kreisen bringen. Dieser Orientierungsverlust wird noch einmal durch eine schier endlose Anzahl an Fraktionen, Orten und Ereignissen verstärkt. Sentinels, Krypter, Dominion - alle paar Minuten taucht ein weiterer Name auf. Da hilft es auch überhaupt nicht, dass diese teils auf Englisch belassen, teils seltsam auf Deutsch übersetzt wurden (Stichwort: "Mannigfalt"). Wer hier vollends durchsteigen möchte, ist früher oder später dazu gezwungen, die einzelnen Punkte noch einmal in der Ingame-Bibliothek, dem Cortex, nachzulesen. Doch selbst dann ist nicht endgültig gesichert, dass ihr die streckenweise wirre, am Ende aber doch etwas vorhersehbare Geschichte in Gänze begreift.
Quelle: PC Games Immerhin konfrontiert euch Anthem im Spielverlauf immer wieder mit interessanten, gut geschriebenen Charakteren - etwa eurem Kumpel und Navigator Owen, der durch sein neckisches Auftreten immer wieder lustige Momente kreiert, dessen unterschwelliger Neid auf die Position des Protagonisten aber auch immer wieder für Anspannung sorgt. Natürlich gibt es auch nervige Figuren, die mit ihrem Geschwafel über "sexy Gefahr" oder das Durchsuchen tierischer Stoffwechselendprodukte für einige Fremdscham-Momente sorgen. Insgesamt gehören die Charaktere aber zu den Pluspunkten des Spiels, auch dank der gelungenen Vertonung und dem anständigen Charakterdesign. Besonders im Vergleich zum letzten Bioware-Titel Mass Effect: Andromeda, das durch die skurrile Gesichtsakrobatik der Beteiligten für Schlagzeilen sorgte, haben die Bewohner von Bastion ihre Mimik gut im Griff und sind durchaus nett anzuschauen - solange es sich um eine halbwegs wichtige Persönlichkeit handelt. Alle "Statisten" im Hintergrund sehen dann doch eher generisch aus.
Anthem im Test: Ein Land zwischen gestern und morgen
Quelle: PC Games Beim Thema Optik darf man auch die interessante Spielwelt von Anthem nicht verschweigen. Diese präsentiert euch einen spannenden Mix aus Zukunft und Vergangenheit, in dessen Zentrum natürlich die futuristischen Freelancer mit ihren Anzügen, den Javelins, stehen. Darüber hinaus verfügt Bastion aber auch über einige andere hochtechnologische Elemente wie Schilde, Geschütze oder Funktürme, die sich mit teils mittelalterlich anmutenden Versatzstücken vermischen. Allen voran euer Missions-Hub Fort Tarsis mit seinen schweren Backsteinmauern, metallbeschlagenen Holztoren und dem belebten Marktplatz versetzt euch gefühlt in ein anderes Jahrtausend zurück.
Dummerweise herrscht innerhalb der Wälle allerdings nur wenig Leben. Zwar hört ihr eine durchgängige Soundkulisse im Hintergrund, vereinzelt spielt Musik oder Menschenmassen geben ein stetes unverständliches Gemurmel von sich. Schaut ihr aber genauer hin, entpuppt sich das geschäftige Treiben schnell als erstklassige Täuschung. Quelle: buffed Die Bewohner von Fort Tarsis tun zwar so als seien sie in intensive Gespräche vertieft, ihren Lippen entfährt aber - trotz sichtlicher Bewegung - nicht ein einziger Ton. Tatsächlich scheint es sogar so zu sein, dass immer nur an vorgegebenen Punkten zufallsbasierte Dialoge stattfinden, in denen stets wechselnde Personen größtenteils belanglose Sätze miteinander austauschen. Dieser Umstand ändert sich auch nur geringfügig, wenn ihr im Verlauf des Spiels weitere Abschnitte der Siedlung, etwa die Bar, freischaltet. Es kommen lediglich vereinzelte Schauplätze für diese geskripteten Gespräche dazu, die ihr allerdings ebenfalls getrost ignorieren könnt.
Anthem im Test: Die Illusion von spielerischem Tiefgang
Ähnliches gilt übrigens auch für die diversen Charaktere, die sich gezielt ansteuern und in eine Konversation verwickeln lassen. Diese haben zugegebenermaßen die eine oder andere amüsante Anekdote parat - besonders gut gefallen hat uns etwa der verrückte Fort-Verwalter, der eine Straßenverkehrsordnung für Fußgänger einführen und nicht-aufgerollte Kabel verbieten möchte. Deren spielerischer Mehrwert hält sich allerdings in Grenzen. Aus den verschiedenen Dialogen ergeben sich trotz der vereinzelten Möglichkeit, zwei unterschiedliche Antwort-Optionen zu wählen, keinerlei Auswirkungen auf die Spielwelt. Ihr schaltet auch keine neuen Missionen frei, obwohl sich das manchmal wirklich angeboten hätte.
Quelle: PC Games
Warum könnt ihr der verzweifelten Bäckerin kein neues Getreide besorgen? Wieso dürft ihr der Freelancer-Kollegin nicht eigenhändig dabei helfen, ihren beim Kartenspiel verzockten Javelin von ein paar Banditen zurückzuholen? Bioware hat hier wirklich eine Menge Potenzial liegen lassen. Dadurch wirken die vielen Gespräche so, als hätten sie die Entwickler einfach der Form halber ins Spiel gepackt. Nur um dem Spieler zu zeigen: Schau hier, es gibt sehr wohl Figuren mit denen ihr interagieren könnt! Und wir haben euch sogar mehrere Dialogstränge geschrieben!
Anthem im Test: Schöne Spielwelt, schlecht genutzt
Auch außerhalb der schützenden Wälle von Fort Tarsis hat die Welt von Bastion nicht viel zu bieten, den schönen Look vielleicht einmal außen vorgelassen. Was die Optik angeht, haben die Macher wirklich tolle Arbeit geleistet. Egal, ob riesige Avatar-eske Schirmbäume, überwucherte antike Tempel oder riesige Wasserfälle - die Landschaft ist einfach ein Augenschmaus und ihre Erkundung in eurem Javelin eine wahre Freude. Ob ihr mit Raketenschub von Baumkrone zu Baumkrone hüpft oder im Sturzflug übergangslos aus luftigen Höhen in eine Unterwasser-Welt abtaucht, jeder Ausflug in die Wildnis ist ein beeindruckendes Erlebnis. Zumal euch dort zahlreiche fantastische Kreaturen erwarten.
Quelle: PC Games
Allerdings reizt Bioware auch in Sachen Spielwelt nicht alle Möglichkeiten aus. Klar, Anthem ist kein Open-World-Sandbox-Spiel à la Red Dead Redemption 2, das euch mit zufälligen Begegnungen noch tiefer in den virtuellen Kosmos hineinsaugt. Ein wenig mehr Interaktion mit unserer Umgebung hätten wir uns aber schon gewünscht. Momentan beschränkt sich diese nämlich auf den Kampf mit verstreuten Gegnern und das Erledigen von Weltereignissen, also kleinen Spontan-Einsätzen, die ihr während der Freien Erkundung annehmen könnt.
Anthem im Test: Ladezeiten und Orientierungsprobleme
Viel Spaß kommt dabei allerdings nicht auf, besonders, wenn ihr auf einem höheren Schwierigkeitsgrad unterwegs seid. Da ihr gerade einmal mit drei anderen Spielern gleichzeitig die Map erkundet, kommt es eher selten vor, dass sich die jeweiligen Wege zufällig kreuzen. Und alleine sind die zufälligen Missionen schon wirklich herausfordernd.
Quelle: PC Games So bleibt einem eigentlich nur noch eines übrig: das Aufspüren von Sammelgegenständen. Ob nun Schriftstücke, antike Runen oder einzigartige Orte wie ein alter Funkturm - alles lässt sich digitalisieren und für die Nachwelt festhalten. Zudem könnt ihr diverse unterirdische Dungeons erforschen, bei deren Betreten ihr euch allerdings auf gehörige Ladezeiten gefasst machen solltet. Denn obwohl Lead Producer Mike Gamble im letzten Jahr noch eine zusammenhängende Welt mit nahtlosen Übergangen versprochen hatte, sieht die Realität nun ein wenig anders aus. Die Wartebildschirme in Anthem kosten euch zahlreiche Minuten kostbarer Lebenszeit. Auch die Orientierung innerhalb der Spielwelt ist unnötig zeit- und arbeitsaufwendig. Schließlich könnt ihr auf der Karte weder Marker noch Wegpunkte setzen. Schade.
Anthem im Test: Fliegen wie Iron Man
Quelle: PC Games Immerhin die Javelin-Kampfanzüge, quasi das Herzstück des Spiels, sind den Machern richtig gut gelungen. Derer gibt es insgesamt vier: Das Allrounder-Modell Ranger, den Element-Attacken schleudernden Storm, den massiven Colossus sowie den flinken aber fragilen Interceptor. Zu Beginn eures Abenteuers müsst ihr euch für einen der Anzüge entscheiden. Im Laufe des Spiels - genauer gesagt auf Stufen 8,16 und 26 - schaltet ihr aber ebenfalls die anderen Ausfertigungen frei.
So steht euch für das Endgame das komplette Quartett zur Verfügung, mit dessen unterschiedlichen Fähigkeiten und damit einhergehenden Vor- und Nachteilen ihr dann ausgiebig experimentieren dürft. Ihr könnt etwa verschiedene Waffen, Anzugkomponenten und Skills ausprobieren. Zumindest, solange ihr euch in der Schmiede befindet. Seid ihr einmal unterwegs, lässt sich eure Ausstattung nicht mehr kontrollieren, geschweige denn noch einmal etwas daran verändern.
Quelle: PC Games
Vermutlich der Transformers/Ironmanstil der dort super ankommt!
Umgerechnet auf unser Punktesdystem sind es 8 Punkte.
Vielleicht ist das die "Versicherung", dass man selbst nach dem Löschen aller anderen Waffen mit seinem aktuellen Level noch klar kommt.
So oder so, komisches Design! :D